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15.05.2020

Zum Europäischen Adipositas-Tag - 16. Mai 2020

Perspektiven der Therapie: Adipositas-Fachgruppensprecher Lars Selig interviewt Prof. Matthias Blüher

Das Krankheitsbild der Adipositas wird aufgrund der stetig steigenden Patientenzahlen auch oft als Pandemie bezeichnet. Für diese Adipositas-Pandemie stehen allerdings, im Gegensatz zu anderen Erkrankungen, nur beschränkte Therapieoptionen zur Auswahl. Aktuell werden die Leitlinien der Deutschen Adipositas-Gesellschaft aktualisiert und dafür Studienergebnisse zur Behandlung der Adipositas zusammengetragen und bewertet. 
Über den aktuellen Stand in der Adipositas-Behandlung sprach VDD-Referatsleiter Lars Selig mit Prof. Dr. med. Matthias Blüher. Er ist seit Dezember 2019 Direktor des Helmholtz-Instituts für Metabolismus-, Adipositas- und Gefäßforschung (HI-MAG) am Helmholtz-Zentrum München in Kooperation mit der Universität Leipzig und dem Universitätsklinikum Leipzig.

Wie bewerten Sie und das Helmholtz-Institut für Metabolismus-, Adipositas- und Gefäßforschung (HI-MAG) die Nationale Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten?

Bislang gibt es keine eigene Stellungnahme des HI-MAG zur Strategie, da unser Institut primär wissenschaftliche Fragestellungen bearbeitet und politische Aktivitäten eher Aufgabe unserer Fachgesellschaft, der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG), sind. Ich möchte aber  die Stellungnahme des Max Rubner-Instituts hervorheben. Sinngemäß wird beschrieben, dass eine freiwillige Reduktionsstrategie, welche keine für die Industrie verpflichtenden Maßnahmen beinhaltet, sehr wahrscheinlich nicht wirkungsvoll ist. Es ist zwar löblich, dass die Industrie freiwillig Reduktionsvorschläge einbringt und teilweise weniger Zucker in Lebensmitteln verwendet. In Anbetracht des Gesamtproblems ist dies allerdings ein Tropfen auf den heißen Stein. Es bräuchte verbindliche Richtlinien, verbindliche Ziele und wahrscheinlich auch gesetzliche Rahmenbedingungen, um die Industrie in die Pflicht zu nehmen. Nichtsdestotrotz freuen wir uns über erste Teilerfolge und erkennen an, dass dies in die richtige Richtung geht, insgesamt aber leider viel zu langsam.

Gibt es Medikamente zur Behandlung von Adipositas?

Leider stehen nicht viele Medikamente für die Adipositas-Behandlung zur Verfügung. In Deutschland verfügbar und zugelassen sind Medikamente mit dem Wirkstoff Orlistat (z. B. Xenical). Außerdem ist Liraglutid 3mg (Saxenda) zur medikamentösen Adipositastherapie zugelassen. Eine Kombination aus Naltrexon und Bupropion ist auch noch in Deutschland verfügbar. Für andere Medikamente, wie zum Beispiel Tenuate, gibt es bisher keine großen klinischen Studien für den Langzeitgebrauch. Der Einsatz von Tenuate ist nur für maximal drei Monate erlaubt. Es bestehen aber berechtigte Hoffnungen, dass es bald schon mehr effektive und sichere Adipositas-Medikamente auch in Deutschland geben wird. 

Welchen Stellenwert hat die Chirurgie in der Adipositas-Therapie?

Für Menschen mit einem hohen Schweregrad der Adipositas und(oder schwerwiegenden Begleiterkrankungen einen sehr hohen. Die Adipositaschirurgie ist der konservativen Therapie durchaus überlegen. Allerdings ist die Gewichtsreduktion nur ein Teilaspekt, zwar ein sehr wichtiger, aber medizinisch betrachtet ist die Reduktion der medizinischen Komplikationen im Sinne der Reduktion begleitender Komorbiditäten (Hypertonie, Diabetes etc.) entscheidend. 
2018 wurden die bariatrischen Leitlinien aktualisiert und neu benannt in S3-Leitlinie „ Chirurgie der Adipositas und metabolischer Erkrankungen“. Damit ist die Indikation zur chirurgischen Therapie des Typ 2 Diabetes, die metabolische Chirurgie aufgenommen worden. Ab einem BMI von 40 kg/m² soll die metabolische Operation sogar als mögliche Therapieoption auch unabhängig von Parametern der glykämischen Kontrolle oder der medikamentösen Diabetestherapie empfohlen werden. Basierend auf den Beobachtungen aus Interventionen im Rahmen der Adipositaschirurgie wurde in den letzten Jahren gezielt das Konzept der metabolischen Chirurgie mit konservativer Diabetestherapie untersucht. Entscheidend für den Erfolg der Adipositas- und metabolischen Chirurgie ist aber eine strukturierte und langfristig angelegte Nachsorge der Patienten.

Was macht das neue Helmholtz-Institut aus und wo liegen Ihre Forschungsschwerpunkte?

Fettleibigkeit ist eine der größten Gesundheitsbelastungen der Gesellschaft. Eine wirksame Behandlung kann metabolische und vaskuläre Komorbiditäten verhindern oder verzögern. Bisher sind Adipositas-Behandlungen für die Mehrheit der Betroffenen entweder nicht wirksam oder nicht verfügbar. Die Entwicklung neuartiger ätiologischer Strategien zur Prävention und Behandlung von Fettleibigkeit erfordert ein besseres Verständnis der molekularen Mechanismen, die Fettleibigkeit verursachen, und deren Verknüpfung mit Stoffwechsel- und Gefäßstörungen. Daher konzentriert sich HI-MAG auf drei wesentliche Forschungsschwerpunkte:

  1. Molekulare Mechanismen der Funktionsstörung des Fettgewebes bei Fettleibigkeit
  2. Zielidentifikation und -validierung für die zukünftige Adipositas-Pharmakotherapie
  3. Entwicklung neuartiger vaskulärer Arzneimittelabgabesysteme zur personalisierten Prävention peripherer arterieller Restenose.

Während einer Aufbauphase bis 2021 wird das HI-MAG die Forschungsaktivitäten in den drei Profilforschungsbereichen vorantreiben: Adipositas-, Stoffwechsel- und Gefäßforschung, indem Professoren und Nachwuchsforschungsgruppenleiter für jeden Forschungsbereich ernannt werden. Technologieplattformen und Kerneinheiten der HMGU und der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig werden die HI-MAG-Forschung unterstützen.